Die Krise als Chance für Lehre und Studium
Stellungnahme des Erziehungswissenschaftlichen Fakultätentages zur Umstellung auf Fernlehre
07. April 2020
Wegen der Covid-19-Pandemie muss der übliche Präsenzbetrieb an den Hochschulen kurzfristig in digitale Lehrformate umgesetzt werden. Dies trifft die meisten Lehrenden unvorbereitet und sie wechseln in einen überdosierten online-Modus um. Doch gestreamte Vorlesungen und online-Seminare können Präsenzkommunikation nie ersetzen. Dazu kommt, dass sie ressourcenmäßig aufwändig sind und die technische Infrastruktur nicht immer in ausreichendem Maß vorhanden ist.
Die möglichst deckungsgleiche Umsetzung von Präsenzlehre in digitale Formate ist von der Vorstellung getragen, dass die digitale die reale Kommunikationssituation ersetzen müsse. Die Digitalisierung droht dabei zum Selbstzweck zu werden, wie der Fakultätentag Informatik unlängst kritisch anmerkte. Doch sie als „ein Mittel zur Verbesserung der Qualität der Lehre“ zu nutzen, kann unter dem aktuellen Zeitdruck nur eingeschränkt realisiert werden. Fernlehre ist nicht einfach nur Kommunikation mit anderen Mitteln, sie verlangt eine ganz eigene Didaktik. Denn jedes Medium besitzt gegenüber der direkten Kommunikation einen Minderwert und einen Mehrwert. Doch verlangt es Zeit, neue digitale Formate didaktisch zu erproben, welche aktuell fehlt. Deswegen will der EWFT auf die hochschuldidaktische Bedeutung des angeleiteten Selbststudiums als Lehrformat hinweisen.
Ein Studium hat primär wissenschaftliches Denken zum Ziel. Dies vollzieht sich nicht allein im Hörsaal, sondern auch im Selbststudium. Dazu sind zusammenhängende Zeitphasen für ungestörtes Arbeiten erforderlich; es verlangt Hochschullehrende, die die Gedanken der Studie-renden aufnehmen, Fehlwege behutsam aufzeigen und die zur Erprobung wissenschaftlicher Denkwerkzeuge ermuntern. Die selbstgesteuerte Einübung in wissenschaftliches Denken und Schreiben verlangt es zu lesen – viel zu lesen! – zentrale Aussagen zu erkennen und zu verstehen, Gelesenes in eigene Worte zu fassen und auf der Basis wissenschaftlich begründeter Urteile zu argumentieren und sie verlangt es, all dies in eigenen Worten schriftlich niederzulegen. Wo der direkte Gesprächspartner fehlt, kann im Sinne der Dialektik die Gegenthese antizipiert und diskutiert werden.
Dazu sind Aufsätze und Bücher auch digital zugänglich. So haben die Fachverlage sofort solidarisch reagiert und einen open access-Zugang zu ihren digitalen Beständen eröffnet. Das im Selbststudium Erarbeitete zu korrigieren ist ebenfalls Lehren, Anweisungen per Mail und in asynchronen Chatforen sind Lehrkommunikation. Zeit für Selbststudium und Zeit für dessen Anleitung sind die Chancen, die sich jetzt bieten. Das Präsidium des EWFT empfiehlt:
- Lehren im kommenden Semester nicht allein als Präsenz im Hörsaal, sondern auch als angeleitetes Selbststudium zu verstehen (im Sinne eines inverted classroom) und dazu offenere Zeitstrukturen im regulären Vorlesungsplan zu ermöglichen
- Alle Medien in ihrer Vielfalt und Breite einzusetzen, auch um eine Überlastung der technischen Ressourcen zu vermeiden
- Die ergänzende Förderung der Eigeninitiative Studierender zum Austausch in Kleingruppen über Fernkommunikation und über asynchrone Medien
- Erziehungswissenschaftliche Kenntnisse, wie aus der Lern-, Lehr- und Bildungstheorie, der Didaktik, der empirischen Bildungsforschung, der Medienpädagogik, für das Studium in andere Disziplinen zu tragen oder den Austausch mit der Erziehungswissenschaft zu suchen.
Wenn man die erzwungene Präsenzpause als Ermöglichung für vielfältige Lehrformate erkennt, zu denen auch das angeleitete Selbststudium gehört, kann sie eine Chance für die nachhaltige Vermittlung wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens sein.
Ansprechpartnerin:
Erziehungswissenschaftlicher Fakultätentag
Die Vorsitzende
Prof. Dr. Manuela Pietraß
Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Medienbildung
Fakultät für Humanwissenschaften
Universität der Bundeswehr München
85577 Neubiberg
Manuela.Pietrass@unibw.de
Tel. 0049/ (0) 89/ 6004-3102 (-3101)